In kleiner Besetzung machen wir uns von Bayern auf nach Sachsen-Anhalt. Zugegeben, es ist noch etwas gewöhnungsbedürftig. Unser Fräulein Fahrtenschreiber ist groß geworden, ziemlich groß sogar, und verbringt die Tage lieber zu Hause. Ach, wie sich die Zeiten ändern!
An Bord sind "der kleine Held", den ich besser nicht frage, ob ich ihn noch so nennen darf. Mit Zustimmung rechne ich eher nicht.
Kurzum, wir Eltern machen uns mit unserem 14jährigen Sohn und dem Hund auf Tour.
Ziel: Ferropolis, die Stadt aus Eisen, weil sie für einen Teenager ziemlich cool erscheint und die Lutherstadt Wittenberg, weil der Ort für unseren Konfirmanden Geschichte greif- und erlebbar machen kann.
Schon die Zufahrt auf die Halbinsel bei Gräfenhainichen beeindruckt uns. Die riesigen stählernen Tagebaugiganten ragen kirchturmhoch auf, der gigantische Raubbau an der Umwelt hat tiefe Spuren hinterlassen. Die großartige Leistung der Ingenieure und der Bergbauleute ist nicht minder beeindruckend.
Was tun mit einem Areal, das, als die Braunkohleindustrie vor dem Aus stand, keine Daseinsberechtigung mehr fand? Die Idee kam aus dem Bauhaus Dessau und wurde mit Ferropolis perfekt umgesetzt. Heute ist es Freiluftmuseum, Industrie- und Kulturdenkmal, Veranstaltungsareal und, seit letztem Jahr, auch Pop-up-Camp.
Inmitten von fünf Tagebaugeräten darf gecampt werden. Wir nehmen Kurs auf das "Big Wheel" und parken Resa ein. Die Kulisse ist beeindruckend! Das über 8 Meter hohe Förderrad des 1700 Tonnen schweren Kolosses beeindruckt und neben der Gesamthöhe von 31 Meter sehen wir Camper wie Spielzeug aus.
Gemini, der schwerste und gewaltigste Bagger mit seinem 60-Meter-Ausläufer, ist begehbar und bietet reizvolle Ausblicke über Ferropolis und den Gremminer See. Noch heute riecht man das Maschinenöl und ahnt, welche Strapazen und welches Können der 2000 Tonnen schwere Gigant der achtköpfigen Besatzung abverlangte. Für das Campingerlebnis vergeben wir 12 von 10 Punkten ;-)
Ohne die Beschränkungen durch Corona wäre Wittenberg in diesen Pfingstferien vermutlich nicht auf unserer Reisewunschliste gelandet. Sachsen-Anhalt zählt nicht zu den vielbereisten Metropolen und nach cooler Destination klingt die Welterbe Region Anhalt-Dessau-Wittenberg auch nicht wirklich. Schade eigentlich!
Wittenberg macht es einem überhaupt nicht schwer. Die kleine hübsche Altstadt gefällt auf den ersten Blick und das Thema Reformation erschließt sich unkompliziert, ansprechend und spannend.
Gut zu Fuß erreichbar ist die bekannte Schlosskirche mit ihrer bekannten Thesentür. Die ursprüngliche Holztür, an der Luther seine 95 umwälzendenThesen angeschlagen hat, verbrannte 1760 im siebenjährigen Krieg und wurde zur Erinnerung an das Ereignis, knapp 100 Jahre später, durch eine Bronzetür ersetzt.
Von der Schlosskirche aus sind alle Sehenswürdigkeiten in einem Rundgang zu erleben. Wittenberg trumpft mit viermal UNESCO-Weltkulturerbe in einer Strasse auf.
Durch die Altstadt erreicht man in einem schönen Stadtspaziergang die Cranach-Höfe, den Marktplatz mit dem Rennaissance-Rathaus, das Melanchthon-Haus und schließlich das Lutherhaus. Das ehemalige Augustinerkloster wurde im Zug der Reformation aufgelöst und diente der Familie von Martin Luther und seiner Frau Katharina von Bora als Wohnung.
Abseits erschließen sich lauschige Hinterhöfe, Geschäfte laden zum Stöbern ein und für eine kleine Pause finden sich nette Cafés und Lokale.
Viel Kultur, viel greifbare Reformation auf kleinem Platz und tatsächlich erreicht die 500 Jahre alte, lebendige Geschichte unseren Konfirmanden. Wie schön!
Nach zwei wunderbaren Nächten auf Ferropolis starten wir Richtung Daheim. Ein Zwischenstopp ist uns Erfurt wert. Die thüringische Hauptstadt erzählt ebenso reformatorische Geschichte. Hier wurde Luther zum Priester geweiht und im Augustinerkloster lebte Luther als Mönch. Aber nun Szenenwechsel!
Quartier finden wir im Landvergnügen. Was zunächst widersprüchlich klingt, wird uns ein echtes Vergnügen. Ein Landvergnügen in der Stadt! Im Strandkorb vor dem Fisch-Hofladen genießen wir ein oberleckeres Mattjes-Brötchen und fühlen uns in Erfurt fast wie auf Sylt.
Gut, dass wir schon reichlich Landvergnügen-Erfahrung mitbringen und nicht mit vollem Kühlschrank anreisen. So bleibt genug Platz für eine geräucherte Forelle, fangfrischen Saibling, Fischsuppe und feine Fischsalate mit Roter Bete, Kartoffel, Gurke ... ein Genuss!
Wir schlafen ruhig am Hofladen im Kressepark. Aus dem Streichelgehege hören wir ab und an ein eine meckernde Ziege oder das blökende Schaf. Wer mag, wird morgens mit Semmeln und Kaffee verwöhnt oder nimmt später Platz auf der sonnigen Terrasse für ein feines Mittagessen.
Wir genießen die Gastfreundschaft im Erfurter Kressepark und freuen uns über den gelungenen Abschluss unserer Tour nach Sachsen-Anhalt und Thüringen. Eigentlich doch ganz schön, wenn Limitationen Spielräume und neue Erfahrungen möglich werden lassen!
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